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Interview mit Prof. Thomas Schmertosch

Mit objektorientierter Modularisierung Maschinen und Anlagen einfacher entwickeln

Prof. Thomas Schmertosch merkt man seine Begeisterung für Automatisierungstechnik im Gespräch sofort an. Dabei will er dem eher kleinen und mittleren Maschinenhersteller Wissen darüber vermitteln, wie er seine Produkte fit für Industrie 4.0 machen - und wie die objektorientierte Modularisierung dabei unterstützen kann. Das Charmante: Rund 30 Jahre lag seine Idee zu dieser Methode in der Schublade. Jetzt ist sie, mit modernen Begrifflichkeiten ausformuliert und an aktuelle Entwicklungen angepasst, bereits in zweiter Auflage in einem Buch beschrieben. Die Redaktion sprach mit ihm über die Motivation und die Inhalte.

Was war die Motivation hinter der Erstellung des Buches, Herr Schmertosch?

Die Grundidee hatte ich schon vor sehr langer Zeit. Anfang der 1980er Jahre, noch lange vor dem Mauerfall, kam ich frisch von der Universität und begann in Leipzig meine Tätigkeit im Kranbau. Unsere Aufgabe war es damals, große Krane zu automatisieren. Dabei hatten wir das für die damalige Zeit DDR-typische Problem, dass nicht alle Hardware zu bekommen war, die wir benötigten und deren Leistungsfähigkeit bei weitem nicht ausreichte, um alle Anforderungen an einen automatisch arbeitenden Kran realisieren zu können. Also verwendeten wir sehr viel Zeit drauf, die Automatisierungsaufgaben entsprechend zu strukturieren. Aus diesen Gedanken heraus entwickelten wir das Konzept einer modularen, funktionsbasierten Struktur. Letzten Endes enthielt der Kran separate Rechner für neun unterschiedliche mechatronische Einheiten, die damals noch gar nicht so hießen, es waren einfach Komponenten. Das waren meine Anfänge, funktions- und objektorientiert zu denken. Das hieß zwar auch noch nicht so, aber im Nachhinein betrachtet war das der Anfang. Später habe ich dieses Konzept im Rahmen meiner Dissertation weiterentwickelt und entsprechend aufbereitet.

Was hat Sie dazu gebracht, diese Methode wieder herauszuholen?

Als etwa ab dem Jahr 2010, ich war da bereits 20 Jahre bei B&R im technischen Vertrieb, die Themen digitale Produktion oder individualisierte Maschinen in Losgröße eins aufkamen, habe ich immer wieder festgestellt, dass unsere Kunden, natürlich mit anderen Hintergründen, vor den gleichen Herausforderungen standen wie wir 30 Jahre zuvor. Das Ganze wurde und wird bis heute begleitet von den veränderten Anforderungen in der Produktion. Z.B. werden die Maschinen und Produkte immer volatiler aber der Herstellungsaufwand vom Engineering bis hin zur Produktion und Inbetriebnahme darf deshalb nicht steigen sondern soll eher reduziert werden. Und dann kam Industrie 4.0 auf und damit die Frage, was bedeutet es eigentlich für einen Maschinenbauer, Industrie-4.0-affine Maschinen zu bauen? In der Folge kam ich auf den Gedanken, dass unsere damals entwickelte Methode auch 30 Jahre später für all diese Herausforderungen, denen ich im Übrigen das Kapitel 1 im Buch gewidmet habe, ein wirksames Hilfsmittel sein kann. Also habe ich meine Dissertation wieder aufgeschlagen und unter aktuellen Gesichtspunkten mit modernen Beschreibungsmethoden aufgearbeitet und weiterentwickelt. Das war im Wesentlichen der Ursprung des Ganzen. Das habe ich im ersten Kapitel des Buches aufgegriffen.

Haben Sie sich dann Mitautoren gesucht?

Ich habe erst mal selbst angefangen, dann einen Verlag gesucht. Im Gespräch mit meinem Kollegen an der HTWK Leipzig, Dr.-Ing. Markus Krabbes, Professor für Informationssysteme, kamen wir drauf, dass zum Inhalt etwa auch neue Methoden der Modellierung, Verifizierung und Validierung gehören. Diesen Part hat er dann in der ersten Auflage 2018 übernommen. Sechs Jahre später, in unserer aktuellen zweiten Auflage, wurde das Thema künstliche Intelligenz relevant. Ich habe nach entsprechenden Ansätzen gesucht und bin am Institut für angewandte Informatik der Uni Leipzig bei Dr. Christian Zinke-Wehlmann fündig geworden. Er hat jetzt das Kapitel Qualitätssicherung beigesteuert.

Welches Hauptziel verfolgen Sie mit diesem Buch und an wen richtet es sich?

Ich möchte mit dem Buch einen Beitrag leisten, dass nachhaltige Maschinen mit mindestens dem gleichen oder weniger Engineeringaufwand produziert werden können. Das bedeutet, ein Unternehmen bietet seinem Kunden ein nachhaltiges Produkt an, das auch noch zu einem späteren Zeitpunkt wandlungsfähig ist. Diese beiden Vorteile verbunden, sind ja ein Ausdruck der Nachhaltigkeit. Wir haben in dem Buch die objektorientierte Methodik, nach der ja bereits gearbeitet wurde und die nur noch nicht so hieß, weiterentwickelt. Sie zieht sich wie ein roter Faden durch und richtet sich sowohl an Automatisierungstechniker als auch an Konstruktionsingenieure und Designer. Denn die objektorientierte Arbeitsweise lässt sich auf mechanische Komponenten in der Maschinenkonstruktion genauso anwenden. Es geht darum, bei der Entwicklung einer modularen Maschine, Funktionseinheiten zu bilden und deren innere und äußere Funktionen zu definieren. Und hier sollen und müssen Mechanik und Automatisierung zusammenkommen.

Können Sie ein Beispiel geben, bitte?

In dem Buch haben wir dazu an einer Beispielmaschine einen Klebebinder für die Herstellung von Büchern die Methode veranschaulicht. Dieser enthält u.a. für den Klebstoffauftrag die mechatronische Komponente Leimstation, mit der je nach technologischer Anforderung einer von drei unterschiedlichen Klebstoffen auf einen vorgefrästen Buchrücken aufgetragen wird. Dabei steht der äußere Aufbau des Moduls Leimstation mit der Funktion ‚Klebstoff auftragen‘ immer fest. Doch der innere Aufbau des Moduls unterscheidet sich im Bereich der Klebstoffdosierung und -aufbringung. Durch diese Betrachtung können die drei Derivate der Leimstation völlig rückwirkungsfrei in eine Gesamtmaschine integriert werden. Das kann sogar beim Betreiber in eigener Regie erfolgen. Das Beispiel zeigt, dass es bei der Entwicklung einer mechatronischen Komponente nur wichtig ist zu überlegen, wie sie außen mit ihren mechanischen und elektrischen Schnittstellen sowie technologischen Funktionen aussehen und wie sie mit ihrem Umfeld interagieren muss. Wir wollen so auch ein Bewusstsein erzeugen, dass beim objektorientierten Denken Automatisierer und Mechaniker zu einer gemeinsamen Sprache finden.

Welchen Stellenwert hat denn die objektorientierte Entwicklung von modularen Maschinen im Kontext von Industrie 4.0?

In einer digitalen Produktion sind die einzelnen Verarbeitungsmaschinen nichts anderes als Objekte mit Eigenschaften und Funktionen, die quasi miteinander verhandeln. Industrie 4.0 setzt bestimmte Rahmenbedingungen, die im RAMI 4.0, dem Referenz Architekturmodell Industrie 4.0 definiert sind. Wie sich eine Komponente bzw. Maschine im digitalen Umfeld repräsentieren soll, ist eine Designentscheidung des Auftraggebers. In diesem Zusammenhang wird zuerst die sogenannte CP-Klasse definiert. Damit wird bestimmt, wie sich die jeweilige Komponente im Produktionsprozess einbringt. Ist es z.B. eine Maschine mit der CP-Klasse 44 dann spielt die Verwaltungsschale eine Rolle, um bestimmte Eigenschaften, die eine Maschine als Objekt in der digitalen Produktion mitbringen muss, zu repräsentieren. Das heißt, der Maschinenbauer muss lediglich im Zusammenhang mit Industrie 4.0 eine CP-Klasse definieren, in der Steuerung gegebenenfalls eine Verwaltungsschale implementieren und mit dem offenen Busprotokoll OPC UA eine dienstorientierte Kommunikation ermöglichen. Und damit hat er eigentlich schon das Wichtigste getan. Hier sind wir also wieder beim objektorientierten Denken für eine Maschine.

Welche Vorteile hat ein Maschinenhersteller von einer modularen Maschinenentwicklung?

Auf jeden Fall die Reduzierung des Engineeringaufwandes, was letztlich eine Effizienzsteigerung im Maschinen- und Anlagenbau bedeutet. Das ist zunächst keine leichte Aufgabe, denn zunehmende Komplexität bedeutet zwangsläufig auch zusätzlichen Aufwand. Hier bringt die Bildung von mechatronischen Einheiten und Maschinenmodulen in Form von Hard- und Software trotz erhöhtem Initialaufwand klare Vorteile. Denn am Ende ermöglichen modulare Konzepte die Fertigung individualisierter Maschinen und Anlagen auf Knopfdruck.

Gibt es dafür auch ein Beispiel?

Ja, auch dafür habe ich in dem Buch ein Beispiel aus der Textilverarbeitung beschrieben. Dabei geht es um Anlagen eines Unternehmens zur Faseraufbereitung, etwa von Baumwollfasern, die ausgehend vom Rohmaterial in mehreren Stufen von Pflanzenresten, Insekten, Stäuben oder andere Fremdstoffen gereinigt werden müssen. Dabei werden die Fasern bei der Verarbeitung sehr strapaziert, sodass die Anzahl der notwendigen Prozessschritte so niedrig wie möglich gehalten werden muss. Diese Anlagen sind daher immer individuell und deren Projektierung und Fertigung bedeutete früher immensen Aufwand. Um diesen Aufwand zu senken, hat der Anlagenhersteller die Anlagenstruktur streng modularisiert und jedes Einzelaggregat genau wie jedes Teilstück des Transportweges als eigenständige Objekte definiert. Dadurch reduzierte sich nach Aussage des Entwicklungsleiters der Engineeringaufwand einer Maschine von ungefähr acht Wochen auf unglaubliche 40 Stunden.

Wie kann man sich das automatisierungstechnisch vorstellen?

Die Einzelmaschinen sind als autonome modulare Module ausgeführt. Die nicht mit Steuerungstechnik versehenen Rohrsegmente existieren als virtuelle Objekte. Die einzelnen Module interagieren einzig mit ihren unmittelbaren Nachbarn. Informationen erhalten sie nur über den Produktstrom und den in entgegengesetzter Richtung verlaufenden Informationsfluss. So bedarf es keiner zentralen Intelligenz für Steuerungs- und Regelungsaufgaben. Vielmehr organisieren sich die Aufgaben innerhalb der Objekte und zwischen den Aggregaten selbst. Eine übergeordnete Instanz ist nur notwendig, dass Rezepturen und Aufträge ins System gelangen und über die der Prozess konfiguriert und visualisiert werden kann.

Das heißt, die Herausforderung besteht darin, die Vorarbeit bei der Konzeption zu leisten?

Genau, die Gesamtheit der Anforderungen an ein System muss zunächst schrittweise analysiert werden. Dabei gibt es zwei Methoden: Entweder beginnt man von Gesamtstruktur und kommt dann zu den Details. Oder man beginnt im Detail, indem zuerst die Teilelemente mit ihren Wechselwirkungen und Methoden definiert werden und daraus schrittweise das Gesamtsystem entsteht. Egal mit welcher Methode vorgegangen wird, die Komplexität lässt sich durch die sukzessive Zerlegung des Großen in immer kleinere, überschaubarere Teilaufgaben viel besser bewältigen. So entsteht letzten Endes stückweise das Gesamtsystem, das alle Anforderungen der Automatisierer, Konstrukteure aber auch beispielsweise aus Produktmarketing und Vertrieb erfüllt. Wichtig ist dabei die Erkenntnis, dass jede Modularisierung eine gewerkeübergreifende Arbeit ist und am Anfang die gründliche Analyse des Ist- und die Definition des Soll-Zustandes steht.

Objektorientierte Entwicklung modularer Maschinen für die digitale Produktion

Das Buch zeigt Lösungswege für Automatisierungskonzepte auf, wie sich eine Produktionsanlage fit für die Zukunft und Industrie 4.0 machen lässt.

Steckbrief

Prof. Dr.-Ing. Thomas Schmertosch betreut seit 2014 an der HTWK Leipzig als Honorarprofessor die Fachgebiete ‚Komponenten der Automatisierung‘ sowie ‚Modulare Automatisierungssysteme‘. 1952 in Leipzig geboren, studierte und promovierte er als Kybernetiker und arbeitete bis zu seinem Ruhestand als Automatisierungsingenieur. Seit 2016 ist er freiberuflich als Fachautor und beratender Ingenieur rund um das Thema Automatisierungstechnik und Industrie 4.0 tätig.

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