Virtuelles Labor für Ausbildung, Forschung und Lehre

Lernen und forschen mit dem digitalen Zwilling

Im Steuerungstechniklabor des Nuremberg Campus of Technology herrscht gähnende Leere. Lediglich die Status-LEDs der Racks mit den Steuerungen blinken, sonst ist niemand zu sehen. Dennoch läuft der Lehrbetrieb auf Hochtouren: Gerade arbeiten hier fast 40 Studierende gemeinsam daran, einen digitalen Zwilling für einen 3D-Drucker zu entwickeln - völlig virtuell.
 Die Studierenden entwickeln in der virtuellen Laborumgebung einen digitalen Zwilling für einen 3D-Drucker.
Die Studierenden entwickeln in der virtuellen Laborumgebung einen digitalen Zwilling für einen 3D-Drucker.Bild: Wolfgang Geyer Fotografie

Die virtuelle Lehrveranstaltung bringt den Studierenden wichtige Forschungsschwerpunkte im Bereich der Automatisierungstechnik nahe, die viele Bereiche der Industrie aktuell stark verändern. „Das sind etwa die Digitalisierung und Virtualisierung von Prozessen“, erklärt Professor Ronald Schmidt-Vollus. Er hat am Nuremberg Campus of Technology (NCT) eine Forschungsprofessur für Steuerungstechnik inne und befasst sich unter anderem mit der effizienten Projektierung und Inbetriebnahme von Steuerungssystemen. Am NCT wird seit dem Wintersemester 2019/2020 eine Lehrveranstaltung angeboten, bei der die Studierenden einen digitalen Zwilling für die virtuelle Inbetriebnahme einer einfachen Produktionsmaschine entwickeln – konkret eines 3D-Druckers.

 Über ein Entwicklungs-Wiki können die Studierenden ihre Lösungsansätze dokumentieren und diskutieren.
Über ein Entwicklungs-Wiki können die Studierenden ihre Lösungsansätze dokumentieren und diskutieren.Bild: Wolfgang Geyer Fotografie

Problem-based Learning

Der Kurs basiert auf einem sogenannten Problem-based Learning-Ansatz. „Vereinfacht gesagt, stellen wir den Studierenden eine Aufgabe, die sie möglichst selbstständig lösen sollen“, so Schmidt-Vollus. „So unterstützen wir den eigenständigen Transfer von theoretischem Wissen in die Praxis anhand konkreter Lernfälle oder -probleme und fördern außerdem die Arbeit als Team.“ Nach einer kurzen Einführung in die Grundlagen der virtuellen Inbetriebnahme und in die Modellierungssoftware im virtuellen Labor erhalten die Studierenden daher eine einfache und klare Aufgabe, z.B.: „Bitte ändern Sie in der virtuellen Laborumgebung die Zeit, in der der Pneumatikzylinder ein- und ausgefahren wird.“ Anhand dieser Aufgabenstellung müssen die Kursteilnehmer dann die Fachbegriffe klären und einen Weg finden, erfolgreich mit der virtuellen Laborumgebung zu interagieren. Schritt für Schritt werden die Aufgaben komplexer – unter anderem müssen die Studierenden die Schrittmotoren für das 3D-Drucker-Projekt selbst modellieren, Fehler in einem Tankmodell identifizieren oder einen Zähler für die SPS mit entsprechendem HMI entwickeln. Jedes dieser Projekte bildet andere Technologien ab und soll den Studierenden typische Modellierungsansätze für die mechatronischen Komponenten und die charakteristische Kopplung von Verhaltensmodell und virtueller SPS vermitteln. Ähnlich wie in der Industrie wird dabei der digitale Zwilling als Testumgebung genutzt – allerdings nicht für fertige Applikationen, sondern als Übungsfeld für die Studierenden: „Die Studierenden können nach Lust und Laune ihre Ideen ausprobieren, völlig gefahrlos – das Schlimmste, was passieren kann, ist, dass das Betriebssystem abstürzt und ein Neustart erforderlich ist“, erklärt der Professor. Die Veranstaltung war für das letzte Wintersemester als Blended-Learning-Seminar konzipiert, bei dem sich Präsenzveranstaltungen und Arbeiten in der virtuellen Umgebung abwechseln. Doch jetzt, im Sommersemester, wurde daraus ein rein virtuelles Seminar – „was für uns kein Problem war“, sagt Schmidt-Vollus, „so konnten wir auch in Corona-Zeiten unseren Lehrbetrieb einfach aufrechterhalten.“

Nur die Betreuerinnen und Betreuer sind vor Ort im Labor und unterstützen die Studierenden bei der Lösung der gestellten Aufgaben
Nur die Betreuerinnen und Betreuer sind vor Ort im Labor und unterstützen die Studierenden bei der Lösung der gestellten AufgabenBild: Wolfgang Geyer Fotografie

Brücke zwischen Lehre und Industrie

Mit dieser Lehrveranstaltung schließt der NCT eine noch vorhandene Lücke in der Ingenieursausbildung: Bislang werden nur Teilaspekte im Bereich Modellierung und Simulation gelehrt. Zu einem digitalen Zwilling gehören aber viele verschiedene Disziplinen, die alle ihren Beitrag leisten müssen: Prozesstechnik, Maschinen- und Anlagenbau, Elektrotechnik, Automatisierungstechnik und nicht zuletzt Informatik. Dieses interdisziplinäre Denken ist auch für Jürgen Mewes einer der Knackpunkte bei der breiten Einführung und Nutzung von digitalen Zwillingen. Er entwickelt mit seinem Unternehmen Mewes & Partner seit vielen Jahren Systeme für die Virtualisierung und virtuelle Inbetriebnahme. „Ich erlebe es auch in meinem beruflichen Alltag, dass jede Disziplin in ihrem Silo denkt – der Automatisierungstechniker hat sein Modell der SPS, der Verfahrenstechniker hat sein Prozessmodell, der Maschinenbauer hat sein Maschinenmodell“, verdeutlicht Mewes. „Aber für einen funktionalen digitalen Zwilling müssen wir diese verschiedenen Sichtweisen zusammenführen.“ Die scharfen Grenzen zwischen Prozess und Produktionstechnik seien auch in der Praxis nicht mehr zeitgemäß – selbst bei einer einfachen Produktionsmaschine wie einem 3D-Drucker: Materialauftrag, Härtung, Mechanik, alles müsse zusammenarbeiten. „Auch bei der Modellierung müssen alle Gewerke einen funktionalen Beitrag leisten. Genau das lernen die Studierenden in diesem Kurs.“

Bild: Nuremberg Campus of Technology –

Modell für Aus- und Weiterbildung

Wie groß der Bedarf an Fachleuten für Virtualisierung und Modellierung ist, spürt auch Schmidt-Vollus: Er betreut zahlreiche Abschlussarbeiten in der Industrie, von denen sich die Mehrzahl in den letzten zwei bis drei Jahren mit Themen rund um den digitalen Zwilling befasst hat. Aus seiner Sicht können Ansätze wie das virtuelle Labor dabei nicht nur die Ausbildung der Fachkräfte von morgen verbessern, sondern auch zur betrieblichen Aus- und Weiterbildung genutzt werden. Allerdings, so Schmidt-Vollus, sollten Unternehmen dabei den initialen Aufwand nicht unterschätzen: „Man braucht die nötige Infrastruktur und auch ein didaktisches Konzept, um das Thema für die verschiedenen Zielgruppen zu vermitteln.“ Auch Mewes sieht noch Bedarf, was die Umsetzung digitaler Konzepte in der Industrie angeht: „In vielen Fällen hapert es nicht an den Fähigkeiten der Tools, sondern an den Prozessen in den Unternehmen. Wozu brauche ich ein funktionales digitales Modell, wie verbessert es die Zusammenarbeit mit anderen Gewerken – und letzten Endes auch meinen Alltag? Das sind Fragen, die genauso wichtig sind wie die, welches Tool man nutzen sollte.“ Denn am Ende müssen die Mitarbeiter die Modelle auch einsetzen und verstehen – „und deswegen dürfen Modelle keine Black Box sein. Die Instandhalter oder Inbetriebnehmer vor Ort müssen nachvollziehen können, wie das Modell arbeitet, denn letzten Endes sichern diese Menschen die Betriebsfähigkeit der Anlage ab.“ Die gemeinschaftliche Entwicklung eines digitalen Zwillings hat für Jürgen Mewes daher auch noch eine wichtige Funktion: „Für mich als Ingenieur muss Technik faszinieren und neugierig machen – und da ist in den letzten Jahren viel auf der Strecke geblieben, wenn man Technik nur noch in Codezeilen beschreibt. Mit dem digitalen Zwilling können wir die Wahrnehmung von technischen Zusammenhängen anschaulicher und zugänglicher machen – auf eine Weise, die auch mich immer wieder begeistert.“

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